Wiener Vizebürgermeister über Mehrsprachigkeit, Diversität und Vielfalt in und bei der Stadt Wien.
Der amtsführende Stadtrat für Bildung, Jugend, Integration und Transparenz und Vizebürgermeister der Stadt Wien, Christoph Wiederkehr, überreichte den diesjährigen „Vienna Diversity Award“ in der Kategorie „Mehrsprachigkeit“ an das Gewinnerteam von „SAG’S MULTI“. Wir wollten von ihm wissen, was Diversität für ihn bedeutet, welche Rolle Diversität in der Wiener Stadtverwaltung spielt und inwiefern die Wiener Stadtverwaltung die Diversität der Wiener Gesellschaft widerspiegelt.
Herr Wiederkehr, was verstehen Sie persönlich unter Diversität? WIEDERKEHR: Ich verstehe darunter das Anerkennen, Feiern und Verteidigen von Unterschieden und Gemeinsamkeiten, die zwischen Menschen und Gruppen in allen Lebensbereichen bestehen. Diese Unterschiede und Gemeinsamkeiten können in unterschiedlichen Zusammenhängen mit Vor- oder Nachteilen, anders gesprochen: mit Privilegien oder Diskriminierung verbunden sein. In Wien sprechen wir über 100 Sprachen, wir haben mehr als 180 Nationalitäten, Jung und Alt, Menschen jeden Geschlechts mit unterschiedlichem Können, Wünschen und Vorstellungen leben hier zusammen und erschaffen eine in jeder Hinsicht bunte Stadt. Unsere Diversität ist unsere Stärke. Das macht Wien zu dem, was es ist.
Was wird unter Diversity im Verwaltungskontext verstanden? WIEDERKEHR: Im Verwaltungskontext ist Diversität auf mehreren Ebenen wichtig. Einerseits geht es darum, die Dienstleistungen und Angebote der Stadt an die vorhandene Vielfalt in der Stadtbevölkerung anzupassen – d.h., die Angebote so zu gestalten und zu kommunizieren, dass diejenigen, die erreicht werden sollen, auch tatsächlich erreicht werden. Andererseits gilt es in der Organisations- und Personalstruktur das Diversitätsmanagement und Diversitätskompetenzen ständig weiterzuentwickeln. Es ist wichtig die Diversität unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stadt Wien nicht nur anzuerkennen, sondern auch weiter zu fördern und potenziellen Diskriminierungen entgegenzuwirken. Wir erkennen als Stadt an, dass alle Ebenen unserer Verwaltung die Diversität der Wiener Bevölkerung abbilden muss, damit wir innovative Lösungen anbieten können, von denen alle Wiener*innen profitieren. Die Abteilung Integration und Diversität unterstützt die Einrichtungen der Stadt Wien in der Erfüllung dieser Zielsetzungen fachlich und strategisch – u.a. durch Beratung, Zieldefinitionen, Sensibilisierung und Fortbildungen für Mitarbeiter*innen.
Inwiefern spiegelt die Stadtverwaltung der Stadt Wien die Diversität der Wiener Gesellschaft wider? WIEDERKEHR: Die Stadtverwaltung Wien fördert aktiv die Diversität unter ihren Angestellten, um die Vielfalt der Bevölkerung zu reflektieren. Seit 2009 misst der Diversitätsmonitor den Fortschritt in dieser Hinsicht. Derzeit haben 26,6 Prozent der Mitarbeiter*innen einen Migrationshintergrund; im Gesundheitsverbund sogar 37,5 Prozent. Die Stadt passt ihre Dienstleistungen durch Einsatz von 33 Sprachen und zielgruppenspezifische Angebote, wie mehrsprachige Informationsmaterialien und Programme, an die Bedürfnisse einer diversen Bevölkerung an.
Sie sprachen von einem „Diversitätsmonitor“. Was kann man sich darunter vorstellen? WIEDERKEHR: Der Diversitätsmonitor untersucht einerseits, wie die Einrichtungen der Stadt Wien ihre Dienstleistungen und Angebote an die in der Stadt vorhandene Diversität anpassen. Andererseits untersucht der Diversitätsmonitor wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stadt Wien selbst die Diversität der Wiener Gesellschaft reflektierten. Dafür erhebt der Diversitätsmonitor die soziokulturelle Herkunft der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadt Wien in Verbindung mit Geschlecht und Alter.
In Wien werden rund 100 Sprachen gesprochen. Wie wird Mehrsprachigkeit gefördert? WIEDERKEHR: Ich bin stolz darauf in einer mehrsprachigen Stadt zu leben. Fast die Hälfte der Wiener*innen ist mehrsprachig, kann alltägliche Unterhaltungen in zumindest zwei Sprachen führen. Mehr als ein Drittel spricht sogar in drei oder mehr Sprachen. Französisch ist meine Muttersprache, Ungarisch meine Vatersprache. Meine Frau ist aus Amerika! Mehrsprachigkeit ist also auch mein Alltag in Wien und es bereichert uns. Unsere Sprachenvielfalt ist unser Schatz. Die Vielfalt an Sprachen macht Menschen reich an Wissen, an Verständnis. Es macht reich an kultureller Intelligenz, an soziokultureller Kompetenz. Das kann einem niemand nehmen. Deutsch als gemeinsame Sprache aller Wienerinnen und Wiener ist gleichzeitig ein wichtiger Schlüssel zur Integration. Daher fördern wir durch unterschiedliche Angebote das Deutschlernen, wie mit Mama lernt Deutsch oder durch die Wiener Sommerdeutschkurse. 2024 hat beispielsweise die Abteilung Integration und Diversität den Förderschwerpunkt Mehrsprachigkeit. Damit sollen dieses Jahr mehrsprachige Angebote und Initiativen gefördert und ausgebaut werden. Ein anderes Beispiel sind die Lesepat*innen: Fast 80 Wiener*innen sind derzeit ehrenamtlich in 20 Volksschulen im Einsatz, vorgelesen wird je nach Bedarf in 19 Sprachen.
Welche Maßnahmen sind notwendig, um die Vielfalt im Bildungssystem zu fördern und welche werden bereits umgesetzt? WIEDERKEHR: Eine ganz besonders wichtige Rolle bei der Integration von jungen Menschen spielen die Bildungseinrichtungen in Wien. Die zunehmende Diversität der Schülerinnen und Schüler bedeutet für Pädagog*innen und Lehrer*innen, dass neben dem Fachwissen auch interkulturelle Fähigkeiten und Sprachkompetenzen einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Die Erweiterung der notwendigen fachdidaktischen Kompetenzen unterstützen wir beispielsweise auch in der Jugendarbeit durch die neu gegründete Fachstelle Demokratie, die Bildungseinrichtungen, Jugendarbeit und Erwachsenenbildung besser vernetzen wird. Zudem haben wir Maßnahmen präsentiert, die Kindern und Jugendlichen einen besseren Start in ihr Leben ermöglichen, indem Sprachkompetenzen gestärkt werden: Sommerdeutschkurse für über 3.800 Kinder, Kostenlose Sommerlernstationen an 19 Standorten, Alphabetisierungskurse im Rahmen der Sommerdeutschkurse, Sprachförderschwerpunkte im Kindergarten (500 Sprachförderkräfte bis 2025), der Ausbau von „Spielerisch Deutsch Lernen“ an Büchereien, der Ausbau von Ganztagsschulen, das Wiener Bildungsfestival, die Abteilung Bildung und Jugend – Fachbereich Bildung betreibt seit 2015 die „Kinderbücherei der Weltsprachen“, die insgesamt zirka 13.900 Medien in über 50 Sprachen besitzt, 30 aktive Bildungsgrätzl in 18 Bezirken der Stadt: die Institutionen im Grätzl verknüpfen und Bildungspartnerschaften bilden, mehr Administrative Unterstützungskräfte und die Einführung von Orientierungsklassen: Acht Wochen lang gibt es eine Lehrkraft in Erstsprache und eine mit Schwerpunkt Deutsch als Zweitsprache für zugewanderte Kinder.
Welche Herausforderungen und Widerstände können bei der Umsetzung von Diversity und Inclusion auftreten? Wie begegnen Sie diesen? WIEDERKEHR: Grundsätzlich kann Veränderung immer auch Ängste auslösen. Aufgrund unseres Diversitätsmonitors wissen wir, dass es in der großen Mehrheit der Einrichtungen der Stadt Wien bereits ein hohes Bewusstsein für das Thema Diversität gibt und dass Diversität als wichtiges Zukunftsthema für die Organisations- und Strategieentwicklung der Einrichtungen erachtet wird. Wir begegnen Herausforderungen mit zahlreichen, unter anderem von der Abteilung Integration und Diversität entwickelten Programmen, die der Bewusstseinsbildung, Sensibilisierung und Fortbildung in diesem Bereich dienen. So finden regelmäßig Vorträge und Schulungen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadt Wien statt. Aber auch öffentlich zugängliche Vortragsreihen, In-House Trainings, Exkursionen, Diversity-Management-Peergroups, sowie Vorträge in Kooperation mit anderen Abteilungen und externen Stakeholdern werden angeboten.
Wie kann die Stadtverwaltung langfristig von Diversität profitieren? WIEDERKEHR: Eine hohe Diversität unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stadt Wien bedeutet in mehrfacher Hinsicht eine Bereicherung, da wir damit unseren Reichtum an Kompetenzen, Wissen, Erfahrungen und Motivation ausbauen. Eine höhere Vielfalt in der Stadtverwaltung bedeutet auch ein Mehr an transkulturellen und transnationalen Systemkenntnissen und Wissensressourcen – Kompetenzen, die in einer eng vernetzten Welt dringend notwendig sind. Insgesamt steigert eine diversitätsorientierte Anpassung der Organisationen der Stadt die Qualität, die Wirksamkeit und die Effizienz der Dienstleistungen der Stadt.
Inwiefern kann mehr Diversität in der öffentlichen Verwaltung einen Beitrag dazu leisten, die Stadt Wien als Arbeitgeber:in attraktiver zu machen?
WIEDERKEHR: Für uns alle ist es wichtig zu wissen, dass unser Name, unsere Hautfarbe, unser Geschlecht, unser Akzent kein Hindernis sind. Es macht einen großen Unterschied, wenn ich sehe, dass da schon jemand ist, der mir in der einen oder anderen Hinsicht ähnlich ist und der es bereits weit gebracht hat. Es ist auch wichtig, damit alle Menschen sich inkludiert und sicher in ihrem Arbeitsumfeld fühlen. Starke Homogenität im Arbeitsumfeld kann auch unbeabsichtigt Ausschlussdynamiken fördern.Diversität ist wichtig, weil sie motivierend wirkt – vor allem auch für die, die ihren Kompetenzen bei einer spannenden Tätigkeit bestmöglich einbringen möchten.
Rückblickend auf ihre knapp vierjährige Laufbahn als Vizebürgermeister und Stadtrat, im Fokus auf Diversität: Auf welche Errungenschaft sind Sie besonders stolz und was stellte sich als die größte Herausforderung dar? WIEDERKEHR: Herausforderungen hatten wir unendlich viele: Eine Pandemie, der Ukraine-Krieg und jetzt stehen wir vor Herausforderungen im Bildungssystem aufgrund der Familienzusammenführungen. In solchen Krisenzeiten hat sich gezeigt, dass die Stadt Wien stark und solidarisch bleibt. Unser Zusammenhalt ermöglicht es uns, auch unter schwierigsten Bedingungen weiterzuwachsen und Lösungen zu entwickeln. Wir haben zusätzlichen Schulraum errichtet, Orientierungsklassen ins Leben gerufen und einen fünf-Punkte-Plan präsentiert. Letzteres, um die deutlich gestiegene Anzahl an Schüler*innen mit Sprachbarrieren besser zu unterstützen. Zudem bin ich stolz auf die rasche Integration der vielen ukrainischen Kinder in die Schulen und Kindergärten, und über die Errichtung eines eigenen Beratungszentrums für Ukrainer*innen (Start Wien Interface). Auch die Reform der MA 35 ist ein Erfolg: Jetzt wartet niemand mehr, wenn er im Amt anruft. Auch zu erwähnen ist noch, dass wir in Zeiten der Schulschließungen sehr gut alle Communities der Stadt erreichen konnten. Warum? Weil wir starke Diversitätskompetenzen in der öffentlichen Verwaltung besitzen. In Wien können wir auf diese bauen, wenn es darauf ankommt.
Wie stellen Sie sich eine gelebte, diverse Zukunft für Wien vor? WIEDERKEHR: Als Stadt Wien werden wir auch in Zukunft daran arbeiten, dass die Vielfalt in unserer Stadt uns stärker macht. Herausforderungen, die sich immer wieder neu stellen, werden wir weiterhin so gut meistern, wie wir es bisher gemacht haben. Die in unserer Stadt vorhandene Vielfalt ist ein Schatz, der uns zukunftsfit macht – nicht nur was den Wiener Arbeitsmarkt und die Wiener Wirtschaft betrifft. Auch wenn es darum geht, gute und innovative Ideen für ein gutes Zusammenleben für die Welt von morgen zu entwickeln, ist die in unserer Stadt vorhandene Vielfalt ein Schatz, auf den wir bauen können.
"Die in unserer Stadt vorhandene Vielfalt ist ein Schatz, der uns zukunftsfit macht – nicht nur was den Wiener Arbeitsmarkt und die Wiener Wirtschaft betrifft. Auch wenn es darum geht, gute und innovative Ideen für ein gutes Zusammenleben für die Welt von morgen zu entwickeln, ist die in unserer Stadt vorhandene Vielfalt ein Schatz, auf den wir bauen können.“
© Foto: Stadt Wien / PID